Stefan Gaßmann | 06. August 2020
Eine Frage der Identität
Fragen an das EU-Konjunkturpaket aus christlich-sozialethischer Perspektive
Mit dem Ende des zweiten Quartals 2020 ist die befürchtete schwerste Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg in vollem Umfang da: Deutschlands BIP bricht um 10,1 Prozent ein. Die Zeitung „Die Welt“ hielt am 30. Juli dazu fest: „Mit dem Einbruch, den das Statistische Bundesamt jetzt erstmals in Zahlen gefasst hat, wurden rechnerisch sieben Jahre ökonomischen Wachstums in einem einzigen Quartal ausradiert.“ Dabei steht Deutschland aufgrund des entschlossenen Konjunkturpakets der Bundesregierung noch verhältnismäßig gut da: In Italien bricht das BIP um 14 Prozent, in Frankreich um 15 Prozent in Spanien um 16 Prozent ein. In den USA gar um 32,9 Prozent!
Binnen kurzer Zeit könnte dies auch den Exportweltmeister Deutschland noch tiefer in die Rezession reißen, sodass besagter Welt-Artikel den Vergleich zur Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre berechtigterweise nicht scheut: „Die schwerste Krise seit Jahrzehnten weckt Erinnerungen an die Zeit der Großen Depression. Im ersten vollen Krisenjahr 1930 war die Wirtschaftsleistung um 6,7 Prozent gesunken, gefolgt von minus 16,4 Prozent im Jahr 1931 und minus 17,6 Prozent im Jahr 1932. Es dauerte fast ein Jahrzehnt, bis sich das Bruttonationaleinkommen von diesem Rückschlag erholen konnte.“
Betrübliche Aussichten, die allerdings klarmachen, dass es im vitalen Eigeninteresse Deutschlands liegt, andere angeschlagene Staaten und deren Märkte zu stabilisieren, die Deutschlands eigenen Absatz sichern. Ein europaweites Konjunkturpaket, wie es die Regierungen der EU in der vorvergangenen Woche auch unter maßgeblichem Einfluss Deutschlands auf einem historisch langen Gipfeltreffen mühsam erarbeitet haben, ist also auf den ersten Blick ein Gebot ökonomischer Klugheit.
Eine ethische Reflexion des Pakets kommt aber um einen zweiten Blick nicht herum, da es in der konkret ausgehandelten Form deutlich mehr ist, als nur ein ökonomisch kluges Programm: Mit der Aufnahme gemeinsamer Schulden zur Finanzierung des 750 Milliarden Euro schweren Aufbaufonds beschreitet die EU nicht nur eine neue Fiskalpolitik, sondern macht hier auch einen entscheidenden weiteren Schritt im Prozess der europäischen Integration.
Hierbei stellen sich aber empfindliche Fragen, denn dieser Schritt ist mit schweren Hypotheken belastet. Mit einer gemeinsamen Verschuldung bricht das EU-Konjunkturprogramm eines der grundlegenden Versprechen der Währungsunion: keine gemeinsame Haftung für Schulden. In politischer Hinsicht wäre zu fragen, ob es klug ist, in einer Zeit, in der Verlässlichkeit gefragt ist, an derlei Grundfesten zu rütteln, oder ob nicht gerade durch dieses entschlossene Handeln jene Verlässlichkeit allererst demonstriert wird. Und auch in ökonomischer Hinsicht stellen sich bei diesem zweiten Blick Fragen danach, ob das konkret ausgehandelte Programm tatsächlich so wirkungsvoll ist, wie es sein müsste: Reicht es aus, dass die Gelder erst ab kommendem Jahr fließen, der Großteil sogar erst ab 2023? Werden Staaten wie Italien ausreichend Reformen abverlangt oder wird das Geld dort auf Grund des Reformstaus wirkungslos verpuffen? Und unter anderer Perspektive, nämlich in genuin ethischer, könnte von diesem Befund ausgehend gefragt werden, ob es gerecht ist, dass deutsche Steuerzahler, deren Medianvermögen deutlich unter dem der italienischen liegt, für den Wiederaufbau der italienischen Wirtschaft aufkommen müssen. Aber umgekehrt: Was können italienische Staatsbürger dafür, dass die Vermögensbildung in Deutschland bei kleinen oder mittleren Einkommen ungemein schwieriger ist als in Italien? Einfache Antworten auf diese Fragen gibt es nicht! Eine im Zeitalter der Twitterisierung der Politik keinesfalls triviale Feststellung.
Angesichts dieser Komplexität gerade bei der zuletzt aufgeworfenen Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit zeigt sich, warum eine ethische Reflexion nicht um einen kritischen Blick auf das Konjunkturpaket herumkommt, verbinden sich in ihm doch über politökonomische Gesichtspunkte hinaus echte ethische Probleme. Daher kommt es wohl auch nicht von ungefähr, dass in der Kommentierung des Konjunkturprogramms fortlaufend der Begriff Solidarität beschworen wurde, um genau dies klar zu machen: es geht hierbei, vielleicht sogar in erster Linie, um eine Frage von Werten und damit um die Frage der europäischen Identität. Die EU zeigt mit dem Konjunkturprogramm, dass sie eben mehr sein will als eine reine Wirtschaftsgemeinschaft, sie will vielmehr eine kulturelle, eine Wertgemeinschaft sein.
Wie aber aus ökonomischer Perspektive heraus gefragt werden kann, ob das im Grundsatz richtige Anliegen auch in der konkreten Form des Konjunkturprogramms eine wirkungsvolle Gestalt bekommen hat, so muss auch aus ethischer Perspektive gefragt werden: Findet das grundsätzlich begrüßenswerte Anliegen, sich in der Corona-Krise als Werte- und nicht nur als reine Wirtschaftsgemeinschaft zu zeigen, im Konjunkturprogramm eine angemessene Form? Oder verpufft dieses hehre Ziel bzw. ist der nächste Schritt der europäischen Integration lediglich ein technokratischer Schritt in eine Fiskalunion oder vielmehr ein Schritt hin zu einem echten gemeinsamen Ethos und einer echten gemeinsamen kulturellen Identität, die sich auch in konkreter Politik widerspiegelt und nicht nur für Sonntagsreden taugt? Auf Grund der christlichen Wurzeln der europäischen Kultur und der Tatsache, dass die Gründerväter der EWG, aus denen die EU gewachsen ist, neben anderen ideellen Quellen, maßgeblich durch die katholische Sozialethik geprägt waren, ist es angemessen, hier entlang der Prinzipien der katholischen Soziallehre nach der Verwirklichung von Gerechtigkeit, Solidarität, Subsidiarität und der Gemeinwohlorientierung zu fragen.
Dabei zeigt sich schnell, dass Antworten auf entlang dieser Prinzipien entwickelten Fragen ebenfalls schwierig zu geben sein dürften: Ist es etwa gemeinwohlorientiert, wenn das Konjunkturprogramm den ehrgeizigen Green-Deal der EU unterminiert oder Staaten, die in den letzten Jahren Zweifel an ihrer Rechtsstaatlichkeit haben aufkommen lassen, keine Auflagen macht, um Hilfsgelder zu bekommen? Andererseits wäre es gemeinwohlorientierter gewesen, an Maximalforderungen festzuhalten und damit das Zustandekommen eines Kompromisses, der ein Konjunkturprogramm zuallererst ermöglicht hätte, unmöglich zu machen? Hätte dies nicht womöglich noch viel eher dazu geführt, dass die Nationalstaaten ihre eigenen ökonomischen Interessen in einem Zielkonflikt mit ökologischen Fragen bevorzugt hätten? Wäre dann nicht der Green-Deal noch viel eher unterminiert worden?
Die Frage nach der Gerechtigkeit war bereits in ihrer Komplexität angeklungen. Mit ihr hängen aber auch die Fragen nach Subsidiarität und Solidarität zusammen. Im Blick auf die Frage, wie subsidiär das EU-Programm ist – also ob es dem Prinzip Rechnung trägt, dass die kleineren Einheiten die Verantwortung, die sie wahrnehmen können auch wahrnehmen sollen – könnte beispielsweise gefragt werden, ob eine gemeinsame Haftung für EU-Schulden wirklich subsidiär ist: Können angeschlagene Volkswirtschaften wie beispielsweise Italien nicht mit einem entschlossenen eigenen Reformprogramm größere Kreditwürdigkeit erlangen und wären dann nicht darauf angewiesen, dass andere Staaten für sie mit in Haftung genommen werden? Andererseits: Hat Italien angesichts eines BIP-Einbruchs von 16 Prozent dazu gegenwärtig überhaupt die Kraft?
Besonders schwierig wird die Frage aber im Blick auf das vielbeschworene Prinzip der Solidarität. Diese beinhaltet immer Reziprozität und kann auch im Sinne des „Einer für Alle und Einer für Alle“ verstanden werden. Trägt sich diese Haltung aber durch, wenn der Eindruck bei deutschen Staatsbürgern bestehen bleibt, dass sie von ihrem Lohn immer schwieriger Vermögen aufbauen können, dass aber in vielen anderen EU-Volkswirtschaften, die zudem noch stärker von EU-Geldern profitieren, nicht der Fall ist? Dabei ist es nicht unbedingt entscheidend, ob dies ein objektiv gerechtfertigter Eindruck ist. Solidarität hat immer auch eine emotionale Komponente und geriert dann zu einer leeren Begriffshülse, wenn die gemeinsame Identität fehlt, die eine Haltung des „Alle für Einen und Einer für Alle“ allererst motiviert. Über Jahrzehnte war die emotionale Motivierung europaweiter Solidarität der ökonomische Erfolg: gemeinsam sind wir stärker. Aber es zeigt sich im Blick auf die aufgeworfenen Fragen, dass dies keineswegs so eindeutig ist und in schwierigen Zeiten, wie wir sie derzeit erleben, offensichtlich wenig taugt, das Gefühl einer gemeinsamen Identität zu schaffen und damit die Basis für Solidarität zu legen. Das ökonomische Narrativ der EU hat eine Leerstelle hinterlassen, die geradezu nach einer Füllung durch ein neues Narrativ der echten(!) Wertegemeinschaft verlangt. Ein Narrativ, das auch in Zeiten ökonomischer Krisen trägt.
Die aufgeworfenen Fragen können und sollen hier nicht diskutiert werden, was angesichts ihrer Komplexität auch im Rahmen eines knappen Beitrags unangemessen wäre. Es wird eine Aufgabe christlicher Sozialethik sein, hier in den kommenden Monaten und Jahren kritisch nachzudenken und den Prozess der europäischen Integration, der durch das Konjunkturprogramm eine neue Richtung bekommt, entsprechend zu begleiten. Dazu muss sich aber zunächst darüber verständigt werden, in welche Richtung dieser neue Schritt der europäischen Integration weist. Atmet das Konjunkturpaket wirklich den Geist einer europäischen Wertegemeinschaft und einer entsprechenden kulturellen Identität oder geht es hier nicht wieder eigentlich nur um die Verschiebung von Geld und „ethisch neutrale“ Wirtschaftspolitik? Und wäre Letzteres der Fall, was könnte christliche Sozialethik dann konstruktiv einbringen, um Wege zu finden, wie die EU tatsächlich zu einer solchen ethisch bestimmten Identität gelangen kann?
Einen ersten Wink dazu, worauf es dabei ankommt, gab der Präsident der europäischen Bischofskonferenz COMECE, Jean-Claude Kardinal Hollerich, kurz nach der Einigung der EU-Regierungschefs während eines Gesprächs mit dem Magazin Himmelhoch. Er stellte darauf ab, dass dieses Konjunkturprogramm ein echter Wendepunkt in der Beziehung der europäischen Staaten sei, weil es hier nicht mehr darum ginge Überfluss zu verteilen, sondern wirklich zu teilen. Hollerich wörtlich: „Wenn ich teile und ich bin dann ein Stück ärmer dadurch, dann ist es ein echtes Teilen“, das er vorsichtig als „ein Fasten, das Gott gefällt“ bezeichnete. Diese Haltung echter moralisch motivierter Brüderlichkeit kann also der Wendepunkt sein, den das Konjunkturprogramm darstellt. In dieser Lesart ist das Konjunkturpaket möglicherweise auch ein Auftrag, sich darauf zu besinnen, was europäischen Geist und eine dementsprechende Identität einer europäischen Gemeinschaft ausmacht. Christliche Sozialethik darf sich dabei als eine privilegierte Stimme verstehen, die diesen Geist, der aus den Ursprüngen Europas erwächst, wachhält und ist dementsprechend gefordert, dies auch in der kommenden Zeit zu tun.