Peter Schallenberg | April 2020

Freiheit, Recht, »triage« in Zeiten von Corona

1. Medikalisierung, Staatsmedizin und Sozialmedizin

Ohne Zweifel bedeutet die Corona-Krise den gewaltigsten Einschnitt der Menschheit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Das liegt wesentlich an zwei Faktoren:

Erstens an einer inzwischen weltumspannenden ökonomischen und touristischen Globalisierung, die eine Verbreitung von früher regional begrenzten Epidemien beschleunigt. Zum ersten Mal wurde das bei der verheerenden Spanischen Grippe 1918 – 1920 beobachtet, die „spanisch“ nur heißt, weil zuerst spanische Zeitungen in jenem damals am Ende des Ersten Weltkriegs neutralen Land davon berichteten und die wohl zuerst in den USA auftrat und sich von dort ausbreitete und wohl bis zu 50 Millionen Todesopfer gefordert hat, mehr als der gesamte Erste Weltkrieg. So kommt es 2020, ausgehend von China, zu einer weltweiten Wucht der Virus-Erkrankung und der dadurch ausgelösten Pandemie.

Zweitens aber und wichtiger noch läuft diese Pandemie zusammen mit einer für die Moderne typischen und von Michel Foucault ausführlich beschriebenen Medikalisierung bzw. „Medizinisierung“ zumindest der westlichen Gesellschaft und des seit Adam Smith entstehenden westlichen Kapitalismus.[1] „Für die kapitalistische Gesellschaft war vor allem die Bio-Politik wichtig, das Biologische, das Somatische und das Körperliche. Der Körper ist eine bio-politische Wirklichkeit; die Medizin ist eine bio-politische Strategie.“[2] Daraus folgt die Systematisierung der Medizin: „Man könnte die Ausbildung der Sozialmedizin in drei Etappen nachzeichnen: zunächst die Staatsmedizin, dann die urbane Medizin und schließlich die Medizin der Arbeitskraft.“[3] Hinzufügen könnte man – im Blick auf den derzeitigen, von der Corona-Krise bewirkten neuen Schub der Medikalisierung – die Medizin der Risikogruppen. Medikalisierung meint also nicht nur (und nicht einmal primär), dass in der westlichen Welt mit zunehmendem Alter der Bevölkerung – an der Spitze steht seit Jahren schon Italien mit einem Durchschnittsalter der Bevölkerung von 47 Jahren; sehr ähnlich ist es in Japan – eine überproportionale Steigerung der Gesundheitskosten zu verzeichnen ist, die Morbidität mit zunehmendem Lebensalter stark zunimmt und der Anteil kranker Menschen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sich stetig erhöht, wodurch die Ausgaben des Gesundheitswesens überproportional zunehmen. Dieser Prozess der Medikalisierung hat übrigens auch erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Palliativmedizin und das weite Feld der bis vor kurzem noch rein privat organisierten Sterbebegleitung.[4]

Dem voraus aber liegt ein Prozess der Veränderung im öffentlichen Leben und der Wahrnehmung von Gesundheit als öffentlichem Gut und öffentlichem Anrecht und von Krankheit als Dysfunktionalität privaten und öffentlichen Lebens. Krankheit ist nicht länger ein passiv hinzunehmendes Schicksal oder gar, in religiöser Deutung, eine Strafe Gottes für Sünde und Laster, sondern ein aktiv zu bekämpfendes „malum physicum“, ein physisches oder biologisches Übel, das als zu bewältigende Herausforderung an das Individuum wie an die Gesellschaft und den Sozialstaat herantritt. Krankheit ist ein zu beseitigendes Hindernis auf dem Weg zum öffentlichen Gut der Gesundheit, das durch den entwickelten Sozialstaat und die ihm verbundene Sozialmedizin garantiert und auch nach möglichst gleichen und gerechten Kriterien im Gesundheitssystem (und in Form gesetzlicher Krankenversicherung oder eines gesetzlichen „national health service“, einer nationalen allgemeinen Gesundheitsversorgung also) zugeteilt wird. Gesundheit und Krankheitsbekämpfung wird zum Bürgerrecht. Vor Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) und vor dem im Zeichen des Protestantismus einsetzenden Siegeszug der modernen Naturwissenschaften und der Medizin mit ihrer pathologischen Anatomie (die im katholischen Raum verboten war) hätte davon kaum die Rede sein können. Etwas verkürzt, aber prägnant gesagt: An die Stelle des Hospizes tritt nun das Hospital, an die Stelle der Gebete die Medizin. „Das Krankenhaus als therapeutisches Instrument ist in der Tat eine relativ moderne Vorstellung, die erst Ende des 18. Jahrhunderts aufkam. Etwa um 1760 entstand der Gedanke, das Krankenhaus könne und müsse ein Instrument zur Heilung von Kranken sein.“[5] Von nun an ist das Krankenhaus und seine Gesundheitstechnik systemrelevant: „Dank der Technologie des Krankenhauses werden Individuum und Bevölkerung gleichzeitig zum Objekt medizinischen Wissens und ärztlicher Eingriffe. Die Neuverteilung dieser beiden Formen von Medizin wird erst im 19. Jahrhundert erfolgen. Die Medizin, die im Laufe des 18. Jahrhunderts entsteht, ist zugleich eine Medizin des Individuums und der Bevölkerung.“[6] Die individuelle Gesundheit ist nicht nur ein öffentliches Recht, sondern auch eine öffentliche Pflicht, die vom Staat, bis hin zu Seuchenschutzgesetzen, zur Infektionsschutzgesetzgebung und zur Impfpflicht überwacht und erhalten wird. Dieser Pflicht und diesem Recht entspricht zugleich die Einschränkung individueller Freiheiten, wie der Handelsfreiheit, der Reisefreiheit oder auch der Religionsfreiheit. Und wo diese Pflicht zur Aufrechterhaltung der öffentlichen wie privaten Gesundheit in Konkurrenz gerät mit anderen öffentlichen Gütern und Zielen, wie etwa der Schulpflicht oder schlicht der Ermöglichung des wirtschaftlichen Lebens, da werden schmerzhafte Güterabwägungen nötig. Auch dies zeigt brennglasartig gebündelt die Corona-Krise und die derzeitige Epidemie.

2. Konkretion: „Triage“ und medizinische Güterabwägung

Eine Krise bündelt immer brennglasartig verschiedene unterschiedliche und bisher vielleicht verborgen schlummernde Probleme des individuellen wie des gesellschaftlichen Zusammenlebens; manchmal werden auch altgewohnte Theorien und Denkschemata wie zufällig an die Oberfläche der öffentlichen Debatte gespült und zeigen sich unvermutet in neuem Gewand. So auch jetzt in der Corona-Krise, besonders eindrücklich im Feld der Intensivmedizin angesichts einer wirklichen (wie etwa in Italien, Spanien und Frankreich) oder bisher nur befürchteten (wie in Deutschland oder Österreich) Überlastung und Überbeanspruchung der öffentlichen Krankenhäuser und der Intensivstationen. Die Debatte verschärfend kommt innerhalb der Europäischen Union ein erhebliches Gefälle der öffentlichen Gesundheitsversorgung hinzu, mit zum Teil finanziell sträflich schlecht und mangelhaft ausgestatteten Krankenhäusern und Intensivstationen, wie auch erhebliche Unterschiede in der Versorgung mit Intensivbetten (in Deutschland etwa 35 pro 100.000 Einwohner, in Großbritannien etwa 6 pro 100.000 Einwohner) und weiterhin erhebliche Unterschiede in der Organisation und Struktur der Krankenversicherung und des Gesundheitswesens.

Aus einigen Epizentren der Corona-Pandemie im nicht-deutschsprachigen Ausland wurde berichtet, dass Ärzte mehrmals am Tag entscheiden müssen, wen sie in der intensivmedizinischen Betreuung an eine für das Überleben notwendige Beatmungsmaschine legen, und wer überhaupt Zugang zu intensivmedizinischer Behandlung haben darf. Dabei hört man mitunter auch, dass „die Alten“ aus Nützlichkeitserwägungen gegenüber Jüngeren hintangestellt würden. Das ist in der Tat erschütternd, wenn das so stimmen sollte.

In solchen Fällen der scheinbar notwendigen Güterabwägung von Patienten und ihren Ansprüchen auf umfassende intensivmedizinische Behandlung gibt es aus katholisch-ethischer Perspektive eine klare moraltheologische Handlungsmaxime. Papst Johannes Paul II. hat das 1995 in seiner Enzyklika „Evangelium Vitae“, in der es um den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens geht, in prinzipieller Form sehr deutlich gemacht. Hier heißt es: „Der Höhepunkt der Willkür und des Unrechts wird dann erreicht, wenn sich einige Ärzte oder Gesetzgeber die Macht anmaßen darüber zu entscheiden, wer leben und wer sterben darf. (…) So wird das Leben des Schwächsten in die Hände des Stärksten gelegt; in der Gesellschaft geht der Sinn für Gerechtigkeit verloren, und das gegenseitige Vertrauen, Grundlage jeder echten Beziehung zwischen den Menschen, wird an der Wurzel unter-graben.“[7] Das heißt: Grundlage der medizinischen Ethik und der Bioethik muss immer die stets gleiche Personengerechtigkeit sein,[8] alles andere verzwecklicht die Person und ihr Lebensrecht. Genau das meint das erwähnte Zitat: „So wird das Leben des Schwächsten in die Hände des Stärksten gelegt; in der Gesellschaft geht der Sinn für Gerechtigkeit verloren, und das gegenseitige Vertrauen, Grundlage jeder echten Beziehung zwischen den Menschen, wird an der Wurzel untergraben.“[9]

Der Kontext der oben zitierten Aussage des päpstlichen Lehramtes ist freilich etwas anders als der derzeitige Kontext einer Frage von Güterabwägung bei knappen stationären medizinischen Ressourcen. Das Zitat stammt aus einer längeren und ausführlich begründeten Ablehnung der Euthanasie und darauf folgend der Beihilfe zum Suizid, sei es durch Angehörige oder Ärzte, auch wenn es scheinbar aus der guten Absicht des Mitleids geschieht. Dennoch können analoge Bewertungen auch für das hier vorliegende Problem der Abwägung von Zugangsrechten zu knappen medizinischen Ressourcen gegeben werden: Wenn Leben gegen Leben steht, ist prinzipiell eine Güterabwägung unmöglich. Ein solcher vitaler Konflikt ist prinzipiell unauflöslich. Allerdings gilt dies nur für das absolut gleichzeitige Auftreten des Konflikts. Ansonsten gilt nämlich der alte ethische Grundsatz „melior est status possidentis“ (besser ist der Zustand des Erreichten). Das heißt in diesem Fall konkret: Nicht das Anschalten einer frei gewordenen Behandlungskapazität, sondern das Abschalten der noch belegten Maschine muss sich rechtfertigen. Und das ist im Angesicht von Person zu Person prinzipiell unmöglich; eine Abschaltung der lebensnotwendigen Intensivmaßnahme eines Patienten zugunsten eines anderen ist grundsätzlich nicht zu rechtfertigen, sonst würde man sich anmaßen, ein Urteil über den Lebenswert zu fällen. Dies gilt mit einer Ausnahme, auf die wir gleich zu sprechen kommen.

Zuvor nochmals ein Blick auf die in Frage stehende Güterabwägung, die in der fachmedizinischen Literatur auch als „Triage“[10] (französisch: „trier“ für sortieren, aussuchen) bezeichnet wird und zunächst ein legitimes Verfahren zur Priorisierung medizinischer Hilfe und Notfallmaßnahme ist, um bei unerwarteter hoher Patientenzahl und begrenzten Ressourcen zu einer Strukturierung der notfallmedizinischen Maßnahmen zu kommen. Den Ursprung hat das Verfahren wohl im Krimkrieg 1854 und der dort in der russischen Armee von dem russischen Chirurgen Nikolai Iwanowitsch Pirogow (1810 – 1881) eingeführten abgestuften chirurgischen Behandlung und der Einteilung der Verwundeten in fünf Stufen (Pirogowsche Sichtung). Die preußische und die französische Armee übernahmen das Prinzip, bis hin zum Motto des französischen Sanitätsdienstes im Ersten Weltkrieg „Triage – Transport – Traitement“ Sichtung, Transport, Behandlung. Natürlich ist mit der ersten Sichtung immer auch eine unwillkürliche Selektion verbunden, um der Ordnung der darauf folgenden effektiven Behandlung willen,[11] nicht um der Abwägung von Überlebenschancen willen, jedoch immer und explizit nur für plötzlich auftretende Notfälle und Katastrophen, ähnlich der modernen Notfallmedizin und Intensivmedizin[12], und streng begrenzt immer auf den absoluten Ausnahmefall.

Die oben verzeichnete Aussage aus der Enzyklika „Evangelium vitae“ ist freilich zunächst eine grundsätzliche Aussage über das grundsätzliche gleiche Lebensrecht eines jeden Menschen, auch und gerade am intensivmedizinisch begleiteten und assistierten Lebensende bei expliziter Ablehnung eines assistierten Suizids.[13] Die Aussage bezieht sich damit noch nicht direkt auf intensivmedizinische  Maßnahmen am irreversiblen Lebensende. Dennoch kann von dieser Aussage der Enzyklika darauf geschlossen werden, dass ein jeder Mensch, unabhängig von Alter oder Gesundheitszustand, das unbedingte Recht auf eine gleiche und gerechte optimale Gesundheitsversorgung hat. Daher kann es zu einer sogenannten „Triage“ aus katholisch-ethischer Sicht nur in Ausnahmesituationen kommen, unabhängig natürlich von der Tatsache, dass ein „Triage-Verfahren“ in den Notfallambulanzen und in der Intensivmedizin zu Recht dann Anwendung findet, wenn man herausfinden muss, welcher Grad von Dringlichkeit die Behandlung eines Patienten erfordert. Darüber hinaus und im weiteren Sinn könnte es zu einer Auswahl nur in zwei Situationen kommen, und zwar:

Erstens – sogenannte „ex-ante-triage“ (lateinisch „ante“ für „vor“) im Fall der Vor-Auswahl – dann, wenn beispielsweise zwei erkrankte Personen zeitgleich an einem intensivmedizinischen Behandlungsplatz ankommen und der Arzt auswählen muss unter den ankommenden Patienten. Hier liegt auch der eigentliche Ursprung der Triage, nämlich ursprünglich in der Kriegsmedizin und im Lazarettwesen: Schnell und unbürokratisch und oftmals intuitiv musste der Arzt entscheiden, wem die medizinische Behandlung und die knappen medizinischen Ressourcen zukommen sollten. Später wurde dieses Verfahren der Triage vom Kriegsfall auch ausgeweitet auf den Bereich der Notfallmedizin, weil hier manchmal ähnliche Situationen schneller notwendiger medizinischer Auswahl angesichts knapper medizinischer Ressourcen gegeben sind. In solchen Fällen der Not, des Notfalls und der Ausnahme ist der Arzt prinzipiell frei in seiner Entscheidung, die schnell und präzise erfolgen muss.

Zweitens – sogenannte „ex-post-triage“ (lateinisch „post“ für „nach“) im Fall der späteren (nach Bettenbelegung) erfolgten Auswahl – dann, wenn ein intensivmedizinisch behandelter Patient sich dem Anspruch eines nach ihm ankommenden Patienten gegenüber sieht, der nach ärztlicher Diagnose möglicherweise eine bessere Überlebensprognose hat, und daher die intensivmedizinische Behandlung effektiver und effizienter und nachhaltiger genutzt würde, einschließlich möglicher Beatmungsgeräte. Hier muss möglicherweise der Moraltheologe dem Arzt und einer medizinischen Güterabwägung in den Arm fallen und laut und vernehmlich rufen und darauf hinweisen: Jede Person hat die gleiche Würde und daher, bei begonnener intensivmedizinischer Behandlung, das gleiche Recht auf optimale medizinische Versorgung, ungeachtet medizinischer Prognosen über den Krankheitsverlauf oder die mögliche Genesung. Dazu zählt auch das Recht auf die prinzipielle Fortsetzung einer einmal eingeleiteten medizinischen Überlebensmaßnahme, es sei denn, der Patient oder der Arzt in Beratung der Angehörigen kommt zu dem Entschluss, eine unnötige Verlängerung intensivmedizinischer Behandlung verzögere nur ein kurzfristig bevorstehendes Lebensende. Dabei darf aber der konkurrierende Anspruch einer zweiten Person keine Rolle bei der Entscheidungsfindung spielen: Ein Leben zählt so viel wie ein anderes. Über welchen Zeitraum sollte und könnte sich auch diese medizinische Prognose erstrecken und wäre demnach der sehr alte Patient nicht immer benachteiligt in der Güterabwägung, da er weniger Zeit vor sich hat? Dann aber wäre der altersbedingten Selektion Tür und Tor geöffnet.

Einen Ausnahmefall freilich gibt es: Wenn nach ärztlicher Diagnose der intensivmedizinisch behandelte Patient in den irreversiblen Sterbeprozess eingetreten ist oder medizinisch absehbar sich kurz vor dem irreversiblen Sterbeprozess befindet und ein ankommender Patient offenkundig medizinisch sich nicht in diesem Sterbeprozess befindet, dann darf der Arzt sich für den Abbruch der unnötig lebensverlängernden intensivmedizinischen Maßnahmen entscheiden und damit, als Nebenfolge, nicht als primäre Abwägung von Leben gegen Leben, sich für diesen ankommenden Patienten und seine intensivmedizinische Behandlung entscheiden. Die auf den ersten Blick etwas rabulistisch anmutende Unterscheidung zwischen Hauptfolge (des Abbruchs der Behandlung) und der Nebenfolge (der Aufnahme der Behandlung) dient der präzisen Unterscheidung der Motive und Intentionen, um ein Urteil des Arztes (oder der Gesellschaft) über Lebenswert und Lebensqualität auszuschließen.

Jeder Mensch hat die gleiche Würde und das gleiche Recht, auch und gerade im Feld der Gesundheitsversorgung. Daher wird seit altersher die Figur der Gerechtigkeit mit verbundenen Augen dargestellt: Ohne Ansehen des Erfolgs oder der Prognose erhält jede Person den gleichen und gerechten Zugang zu medizinischer Behandlung, auch wenn diese sehr teuer oder sehr knapp ist. Es gibt keine Selektion, außer durch die Zeit, also den Zeitpunkt des Eintreffens des Patienten am medizinischen Standort. Und deshalb darf grundsätzlich nicht eine Person von intensivmedizinischer Behandlung abgeschaltet werden zugunsten einer anderen Person – es sei denn, die Ärzte halten den Sterbeprozess für unausweichlich begonnen und sehen keine Aussicht auf längeres Überleben. Es gibt nämlich keine Pflicht zur Lebensverlängerung um jeden Preis; dies gilt besonders im Umfeld eines zunehmend technisierten Sterbeprozesses.[14] Daher dürfte in einem solchen Fall die lebenserhaltende Maschine des Sterbenden abgeschaltet werden und zugunsten einer nicht sterbenden Person angeschaltet werden. Aber grundsätzlich, außer in solchen seltenen Fällen der intensivmedizinischen Aussichtslosigkeit der weiteren Behandlung, gilt: first come, first served (erste Ankunft, erste Hilfe).

Der auf den ersten Blick naheliegende Gedanke, dass beispielsweise einer jungen Mutter von vier Kindern eher geholfen werden müsste als einem 80-jährigen Menschen, ist bei näherem Hinschauen ein vom Nützlichkeitsdenken, dem sogenannten Utilitarismus, und vom Konsequentialismus und der Güterfolgenabschätzung bestimmtes Denken. Demgegenüber steht der moraltheologische deontologische Ansatz (griechisch „deon“ für „Pflicht“), demgemäß es der unbedingten sittlichen Pflicht entspricht, jedem Menschen in gleicher Weise zum Leben und zur Gesundheit zu verhelfen, außer, was hier nicht das Thema ist, er verzichtet von sich aus und in voller Autonomie auf sein Leben,[15] sei es angesichts unerträglicher Leiden, sei es als Akt heroischer Nächstenliebe als Selbstopfer für einen anderen Menschen und dessen Überleben, notfalls unter Zur-Verfügung-Stellung der eigenen Beatmungsmaschine. Dieser unter anderem auch auf Immanuel Kant zurückgehende Ansatz der reinen Pflicht zur Hilfe, ohne Blick auf die Lebensumstände einer Person, gilt in der naturrechtlichen Tradition Europas als natürliches Recht jedes Menschen und für alle Menschen und ist durchaus kein christliches Sonderrecht. Dieses Recht begründet die Würde eines jeden Menschen als „Selbstzweck“, will heißen: als nicht benutzbare (lateinisch „uti“ für „nützen“) und verwertbare Person.

Dieser Begriff von absolut geltender Personwürde liegt allem weiteren Handeln und aller nachfolgenden Güterabwägung und Güterfolgenabschätzung voraus. „Niemand hat das klarer gesehen als Immanuel Kant. Aus dem Selbstzweckcharakter des Menschen folgert er nie, dieser ‚Zweck‘ müsse auf irgendeine Weise befördert oder ‚verwirklicht‘ werden. Er bezeichnet vielmehr die einschränkende Bedingung, unter der alle unsere Zwecktätigkeiten stehen müssen. Die Würde des Menschen kann so wenig wie die Gottes ‚verwirklicht‘, sie kann nur als immer schon wirklich geachtet werden. Als solche bleibt sie einschränkende Bedingung auch für diejenigen Handlungen, die dem Wohl der Menschen dienen wollen.“[16] Daher wird es eben als „Naturrecht“[17] bezeichnet: Jedem Mensch kommt von Natur aus, einfach aufgrund der Tatsache, dass er von Natur Mensch ist (und kein Gänse-blümchen), zu, vor jeder noch so verborgenen Art der Selektion und der Aussortierung bewahrt zu werden – auch und gerade im Feld der Gesundheit und der medizinischen Leistungen. Darauf ruht unsere Gesetzgebung und unser Grundgesetz mit Art. 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Und das heißt: die Würde jedes Menschen, unabhängig von weiteren Bestimmungen des Alters oder der Nützlichkeit, ist unantastbar.[18]

3. Das Ende des Neoliberalismus und die Soziale Marktwirtschaft

Eine Krise bündelt Perspektiven und Probleme. Die Corona-Krise schärft den Blick in einer vorher nie da gewesenen Weise auf verschiedene Arten von Güterabwägungen und Folgenabschätzungen. Dazu zählt die konkrete und beschriebene Abwägung von knappen Ressourcen im Gesundheitswesen und in der Krankenhausversorgung, auch in der Intensivmedizin im Blick auf unterschiedliche Patientenbiographien und unterschiedliche Genesungsprognosen: Wer hat ein Recht auf unbedingte Förderung seiner Freiheit zum Leben und zum Überleben? Dazu zählt freilich auch die Abwägung der Gesundheitsinteressen und der Überlebenschancen insbesondere der über sechzig Jahre alten Bürgerinnen und Bürger gegenüber den Interessen der weniger vom Risiko der Viruserkrankung betroffenen jüngeren Menschen wie auch der Interessen der Wirtschaft, zumal des Mittelstandes und des Handwerks. Dahinter stehen letztlich auch Fragen nach dem Sinn, der Reichweite und der Dauer von staatlichen Eingriffen in individuelle Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger, die im Namen der Aufrechterhaltung einer öffentlichen Gesundheit und der Krankenversorgung geschehen und durchgesetzt werden. Hier konkurrieren unmittelbar verschiedene Freiheitsrechte, etwa das Recht auf Gesundheit und das Recht auf Bewegungsfreiheit, aber auch, verbunden damit, das Recht auf Berufsausübung und den Erwerb von Lebensunterhalt. Staatliche Macht steht nach aufgeklärter moderner Auffassung im Dienst des Individuums, der menschlichen Person und ihrem „pursuit of happiness“, wie das die amerikanische Unabhängigkeitserklärung formuliert. Solche staatliche Macht im Dienst an der Person ist nach moderner Lesart immer demokratisch reglementiert und kanalisiert, und das meint: Jeder darf jedem eine Frage stellen, außer der alles entscheidenden Frage „Wozu braucht es Dich eigentlich?“ Diese Frage darf nicht gestellt werden in republikanischen Staatswesen, weil sie die zweckfreie Menschenwürde antastet, und sie muss auch nicht gestellt werden, weil sie bereits durch die Verfassung – im deutschen Fall durch die Präambel des Grundgesetzes mit der „nominatio Dei“, der Benennung Gottes[19], und mit Artikel 1 des Grundgesetzes – beantwortet ist. Auf dieser Grundlage freilich darf und muss alles befragt und hinterfragt und diskutiert werden.

Soziologisch und ökonomisch betrachtet, wird nach der Corona-Pandemie in der Tat nichts mehr sein wie vorher. Anders und schärfer gesagt: Das endgültige Ende des vielleicht allzu oft auch zu Unrecht viel geschmähten Neoliberalismus ist unwiderruflich gekommen, jedenfalls sofern unter Neoliberalismus eine Spielart des angelsächsischen Kapitalismus ohne ordnungsethisches Adjektiv verstanden wird, die in der Tradition eines Adam Smith von der Verfolgung individueller Interessen der Akteure im Markt und einer unsichtbaren Hand des Marktes ausgeht. Individuelle Freiheiten fügen sich nicht durch eine solche unsichtbare Hand zum Gemeinwohl aller, insbesondere der schwächeren und benachteiligten Akteure in Wirtschaft und Gesellschaft zusammen. Der Soziologe Heinz Bude hat mehrfach auf ein neues Verständnis von Solidarität in diesem Zusammenhang hingewiesen[20], auf eine gesellschaftliche Staatsbedürftigkeit zur Organisation dieser Solidarität zugunsten der verwundbaren Mitglieder der Gesellschaft, und dass Solidarität in der Zukunft sehr viel mehr Freiheit und Schutz miteinander vermitteln wird. Die Corona-Krise hat diese Zukunft und ein neues solidarisches Verständnis von Staat und Markt wünschenswert rasant beschleunigt. Der Staat wird neue Stärke gewinnen zur Ordnung individueller Freiheiten und Freiheitsgewinne, zur Verpflichtung von Gewinnen und Vermögen zugunsten des Gemeinwohls, zum Ausgleich durchaus disparater Interessen und nicht zuletzt zum Schutz ganz neuer gefährdeter Risikogruppen einer Gesellschaft von solidarisch lebenden Individuen, die sich als Personen, also als einander moralisch verpflichtet verstehen. Das gilt zunehmend mehr im Feld der Gesundheit, aber auch im Feld der Investitionen und der Erwerbstätigkeit und deren finanzielle Risikoabsicherung, die in Zeiten von Corona ohne staatliche Absicherung überhaupt nicht möglich wäre. Und dies entfaltet eine neue Facette der Sozialen Marktwirtschaft in Richtung einer vorausschauenden Solidarität gesellschaftlicher Akteure, die um die eigene Verwundbarkeit neuerdings deutlich wissen.

Staatliche Macht und die individuelle Freiheit zu Grundrechten kommen dann in eine Balance, wenn nach den wesentlichen Inhalten des staatlich organisierten Zusammenlebens gefragt wird, auch und gerade in Zeiten von Corona und Pandemie. Die Versuchung zur Praxeologie, also zum bloß effektiven und effizienten Verfolgen von technisch machbaren Zielen ist groß. Wir können viel, ob wir es auch sollen, ist damit noch nicht beantwortet. Und auch die Frage nach der Reihenfolge der Güter und deren Verwirklichung, also die Frage nach Kriterien für eine ethische „Triage“ ist noch längst nicht beantwortet. Daher gilt es, die Frage nach dem wirklich Guten jenseits des bloß Machbaren wachzuhalten. Christlich gesprochen: „Wo die Inhalte nicht mehr zählen, wo die reine Praxeologie die Herrschaft übernimmt, wird das Können zum obersten Kriterium. Das aber bedeutet: Die Macht wird zur alles beherrschenden Kategorie – revolutionär oder reaktionär. Dies ist genau die perverse Form von Gottähnlichkeit, von der die Sündenfallgeschichte spricht: Der Weg des bloßen Könnens, der Weg der reinen Macht ist Nachahmung eines Götzen und nicht Vollzug der Gottebenbildlichkeit. Das Kennzeichen des Menschen als Menschen ist es, daß er nicht nach dem Können, sondern nach dem Sollen fragt, und daß er sich der Stimme der Wahrheit und ihres Anspruchs öffnet.“[21]

 

Anmerkungen

[1]   Vgl. Peter Conrad, The Medicalization of Society: On the Transformation of Human Conditions into Treatable Disorders, Baltimore 2007.

[2]   Michel Foucault, Die Geburt der Sozialmedizin, in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. 3: 1976-1979, Frankfurt/M. 272-298, hier 275. Weiterführend auch Ivan Illich, Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens, München 1995.

[3]   Michel Foucault, Die Geburt der Sozialmedizin, aaO, 276.

[4]   Vgl. Michael Stolberg, Die Geschichte der Palliativmedizin. Medizinische Sterbebegleitung von 1500 bis heute, Frankfurt/M. 2011, bes. 258-261.

[5]   Michel Foucault, Die Einbindung des Krankenhauses in die moderne Technologie, in: Ders., Schriften in vier Bänden, aaO, 644-660, hier 645. Ähnlich auch (mit Blick auf die Psychiatrie) ders., Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M. 1969, 308-345.

[6]   Ebd. 660.

[7]   Johannes Paul II., Enzyklika „Evangelium vitae“ (25. März 1995) Nr. 66.

[8]   Vgl. zum Hintergrund Karen Gloy, Die Frage nach der Gerechtigkeit, Paderborn 2017.

[9]   Johannes Paul II., Enzyklika „Evangelium vitae“, aaO.

[10] Vgl. Alexander Brech, Triage und Recht: Patientenauswahl beim Massenanfall Hilfsbedürftiger in der Katastrophenmedizin. Ein Beitrag zur Gerechtigkeitsdebatte im Gesundheitswesen, Berlin 2008.

[11] Vgl. Nils Ellebrecht, Triage. Charakteristika und Gegenwart eines ordnungsstiftenden Verfahrens, in: Sociologia Internationalis 47(2009), 229-257.

[12] Vgl. Sonja Frühwald, Behandlungszwänge in der Intensivmedizin, in: Walter Schaupp / Wolfgang Kröll (Hgg.), Medizin – Macht – Zwang. Wie frei sind wir angesichts des medizinischen Fortschritts?, Baden-Baden 2016, 49-58.

[13] Vgl. auch Peter Schaber, Assistierter Suizid: Was man tun darf und was man tun soll, in: Johann Platzer / Franziska Großschärl (Hgg.), Entscheidungen am Lebensende. Medizinethische und empirische Forschung im Dialog, Baden-Baden 2016, 31-41.

[14] Vgl. Uwe Krähnke, Pathologisierung, Hospitalisierung und Technisierung der letzten Lebensphase. Zum biomedizinischen Umgang mit dem Sterben, in: Sascha Dickel / Martina Franzen / Christoph Kehl (Hgg.), Herausforderung Biomedizin. Gesellschaftliche Deutung und soziale Praxis, Bielefeld 2011, 333-360.

[15] Vgl. Eberhard Schockenhoff, Selbstbestimmtes Sterben? Zur Funktion des Autonomiearguments in der Debatte um die Sterbehilfe, in: Walter Schaupp / Wolfgang Kröll (Hgg.), Medizin – Macht – Zwang, aaO, 71-89.

[16] Robert Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, in: Ders., Das Natürliche und das Vernünftige. Essays zur Anthropologie, München 1987, 77-106, hier 97.

[17] Vgl. klassisch Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, Leipzig 1936; Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, Stuttgart 1953. Aus neuerer katholischer Sicht vgl. Hanns-Gregor Nissing (Hg.), Naturrecht und Kirche im säkularen Staat, Wiesbaden 2016.

[18] Vgl. zum Hintergrund Tine Stein, Ernst-Wolfgang Böckenförde und der Streit über die Interpretation der Menschenwürde. Zwischen geistesgeschichtlicher Herkunft und säkularer Verfassungsordnung, in: Hermann-Josef Große Kracht / Klaus Große Kracht (Hgg.), Religion – Recht – Republik. Studien zu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Paderborn 2014, 137-154; daneben auch Tine Stein, Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates, Frankfurt/M. 2007.

[19] Vgl. zum Hintergrund Horst Dreier, Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne, München 2018, 171-188.

[20] Vgl. Heinz Bude, Solidarität: Die Zukunft einer großen Idee, München 2019.

[21] Joseph Ratzinger, Wahrheit, Werte, Macht. Prüfsteine der pluralistischen Gesellschaft, Freiburg/Br. 1993, 48.

Der Verfasser

Msgr. Dr. Peter Schallenberg ist Professor für Moraltheologie an der Theologischen Fakultät Paderborn und Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ).