Stefan Gaßmann | 15. April 2020

Religionsfreiheit und Gesundheitsschutz

Überlegungen zu einer schwierigen Güterabwägung aus christlich-sozialethischer Perspektive

In der vergangenen Woche haben Verwaltungsgerichte in Berlin und Hessen entschieden, dass die Einschränkung der Religionsfreiheit durch das derzeit geltende Verbot öffentlicher Gottesdienste zur Eindämmung der Ausbreitung des Erreger SARS-CoV-2 zulässig sei. Weitere Verfahren in dieser Angelegenheit sind anhängig und das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlins wird bereits vom Kläger in der nächsten Instanz angefochten. Hierbei stehen zwei Grundrechte im Konflikt: Das Recht auf körperliche Unversehrtheit einerseits und das Recht auf Religionsfreiheit andererseits. Es ist nachvollziehbar, dass sich in der gegenwärtigen Lage, in der immer noch nicht abgesehen kann, wie gefährlich die Pandemie tatsächlich ist und ob eine flächendeckende Überlastung der Gesundheitssysteme droht, staatliche Akteure, aber etwa auch kirchlichen Akteure, alle Möglichkeiten des Gesundheitsschutzes ausnützen und dabei auch bei Grundrechteingriffen nicht zimperlich vorgehen – immerhin geht es um den Schutz menschlicher Leben! Da es aber bei der Wahrung von Grundrechten um die Wahrung der menschlichen Würde geht, kann eine personalistische Ethik, wie die christliche Sozialethik, nicht umhin, hier genauer hinzuschauen. Dabei ist es ein guter Ausgangspunkt, sich zunächst klar zu machen, warum sich aus der christlichen Perspektive ad intra ein grundsätzliches Verbot öffentlicher Gottesdienste als besonders schwerwiegender Eingriff in die Religionsfreiheit darstellt.

Von diesem Standpunkt aus wäre zu betonen, dass die Feier der Eucharistie Höhe- und Mittelpunkt des christlichen Lebens ist. Insbesondere Katholiken und Christen der Ostkirchen glauben an die Realpräsenz Jesu Christi und damit Gottes selbst im gewandelten Brot. Der Empfang der heiligen Kommunion ist daher für Christen durch nichts auch nur ansatzweise substituierbar. Im weiteren Sinne gilt dies, mindestens aus katholischer Perspektive, auch für alle übrigen Sakramente, die in ihrer Tiefe eine Dimension haben, an die das persönliche Gebet, die Schriftlesung oder ähnliche, im privaten Raum jederzeit mögliche Formen spiritueller Praxis nicht heranreicht: Der religiöse Mensch kann sich die Gabe, die er im Sakrament empfängt, nicht selber geben, zu ihr gehört wesentlich, dass sie empfangen wird – und zwar physisch! Besonders schmerzlich ist angesichts dessen, dass manche Bekanntmachung des Verbots öffentlicher liturgischer Feiern oder diesbezügliche Äußerungen, die Sensibilität dafür vermissen ließ, dass dies eine spirituelle Katastrophe für Gläubige darstellt, zumal im Umkreis des Osterfestes.  Aus der Perspektive ad intra bedarf es somit folglich überhaupt keiner näheren Begründung, wieso Gläubigen die Vorenthaltung der Möglichkeit, die Sakramente zu feiern und zu empfangen, nicht statthaft ist. Vielmehr wäre zu fragen, wie es ihnen auch unter erschwerten Bedingungen ermöglicht werden kann.

Entscheidend für ein solches Ermöglichen und die Frage, ob das Gottesdienstverbot ein zulässiger Eingriff in die Religionsfreiheit ist, ist aber die Begründungsrichtung ad extra. Hier setzt die Perspektive der christlichen Sozialethik ein, denn das staatliche Verbot öffentlicher Gottesdienste ist keine Schikane religiöser Gemeinschaften, sondern eine Maßnahme des Lebensschutzes! Christliches Nachdenken über Sozialstrukturen hat sein konzeptuelles Zentrum im Prinzip der Personalität: Alle Sozialstrukturen sind funktional auf Schutz und Förderung der je persönlichen, unantastbaren Würde jedes Menschen hin zu beziehen. In einer solchen Bezogenheit drückt sich die Orientierung von Institutionen – und damit auch von Gesetzen – auf das Gemeinwohl hin aus. Daher sind Freiheitsrechte – wie die Religionsfreiheit – als juridische Operationalisierung dieser Würde aufzufassen, die daher nicht nur Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat sind, sondern auch ein positiver Auftrag an den Staat zur Förderung der Verwirklichungsmöglichkeiten dieser Rechte. Folglich hätte der Staat auch einen Auftrag dazu, die Möglichkeit der Ausübung der Religionsfreiheit zu befördern. Aber: Notwendige Grundlage dafür, dass Personen ihre Würde in Freiheit realisieren können, ist ihre körperliche Unversehrtheit! Dass Gesundheitsschutz durch die Sozialstrukturen gewährleistet wird, ist ein Dienst an der Würde jedes Menschen. Es ist daher aus sozialethischer Perspektive zunächst zu begrüßen, dass auf staatlicher Ebene bei Ausbruch der COVID-19-Pandemie keine Diskussion aufkam, ob bestimmte Leben – z.B. leistungsfähiger, junger Menschen – schützenswerter seien als andere – z.B. alter Menschen – oder ‚schützenswerteren‘ Leben Einschränkungen zum Schutz ‚weniger schützenswerter‘ Leben zugemutet werden dürften, sondern von vornherein die umfassenden Maßnahmen darauf angelegt wurden, dass Leben aller zu schützen. Grundlage eines solchen umfassenden Schutzes ist ein funktionsfähiges Gesundheitssystem. Insofern ist  aus Perspektive christlicher Sozialethik festzuhalten, dass Maßnahmen, die darauf abzielen, dieses System während einer akuten, gesundheitlichen Krise vor  Überlastung zu schützen, zu begrüßen sind; auch und gerade Christen, haben daher  grundsätzlich die Folgen eines Versammlungsverbotes zu tragen, wenn dies – wie im aktuellen Falle – am Gemeinwohl orientiert ist und damit im Dienst des Schutzes der Würde aller Menschen steht.

In einem zweiten Schritt muss aber unter sozialethischen Gesichtspunkten eingehakt werden: Gesundheitsschutz und damit zusammenhängende Maßnahmen sind kein Selbstzweck! Sie müssen auf die Beförderung der Würde jeder menschlichen Person hingeordnet sein. Aus dieser Würde begründet sich auch die Religionsfreiheit: Insbesondere in der Möglichkeit, sich frei auf ein Sinnganzes zu beziehen – oder auch nicht zu beziehen – und sich in Freiheit zu transzendieren, vollzieht sich die Größe menschlicher Freiheit. Dass es sich dabei um einen wesenhaft freien Vollzug handelt, impliziert in der juristischen Konkretion des Ausdrucks der Würde des Menschen in seiner freien Religiosität, eine Neutralität des Staates gegenüber religiöser Weltanschauung: Er kann beispielsweise nicht entscheiden, ob eine religiöse Feier, wie die Eucharistie für Katholiken und Christen der Ostkirchen, der physischen Präsenz bedarf oder nicht. Ebenso kann er nicht entscheiden, ob eine Mitfeier der Eucharistie für den authentischen Vollzug religiöser Freiheit entbehrlich ist. Wenn der Staat einen positiven Auftrag zur Schaffung konkreter Verwirklichungsmöglichkeiten menschlicher Würde – und damit der Religionsfreiheit – hat, dann muss er die Perspektive der jeweiligen Religionsgemeinschaft ad intra ernst nehmen und entsprechend dieser Selbstdeutungen in seinem aus Religionsgemeinschaften bezogenen Handeln differenzieren: Einer religiösen Versammlung kommt unter Umständen – das muss im Einzelfall geprüft werden – eine andere Bedeutung zu, als beispielsweise kulturellem Programm wie einer Konzertaufführung.

Viel deutlicher als im Blick auf gottesdienstliche Versammlungen tritt der Konflikt zwischen der Realisierung der menschlichen Würde durch Gesundheitsschutz einerseits und Religionsfreiheit andererseits bei der Sterbebegleitung zu Tage: Derzeit verweigern die geltenden Infektionsschutzgesetze sterbenden Menschen die Möglichkeit, würdig aus dem Leben zu scheiden. Menschen, deren personales Selbstverständnis und damit ihre Würde, wesentlich davon abhängen kann, die Sakramente vor ihrem Ableben zu empfangen, wird dies verweigert; ganz abgesehen davon, dass sie im Regelfall isoliert und ohne die Nähe anderer Menschen sterben müssen. Hier kann der Staat nicht einseitig die Freiheit des sterbenden Menschen um des Gesundheitsschutzes anderer willen zurückstellen! Er muss einen vernünftigen Ausgleich zwischen den Erfordernissen der Infektionsvermeidung und den Möglichkeiten für die Bürger, ihre Freiheitsrechte zu gebrauchen, finden. Mit einem gemeinwohlorientierten Gesundheitsschutz, der der Würde des Menschen dient, kann keine prinzipielle Abwertung der Religionsfreiheit begründet werden: Gesundheitsschutz ist nicht das höhere Gut, das höhere Gut ist die personale Würde jedes Menschen!

Aus sozialethischer Perspektive muss also festgehalten werden: Sowohl der Staat als auch die Religionsgemeinschaften dürfen es sich in der Frage nach der Gestaltung des religiösen Lebens in der Zeit einer Pandemie nicht zu einfach machen: Keine von beiden Seiten kann sich einfachhin auf die Notwendigkeit von Erfordernissen des Gesundheitsschutzes oder der Religionsfreiheit berufen, sondern müssen jeweils klug abwägen, wie beide Güter, um der Würde aller Menschen willen, realisiert werden  können. Hier ist sicherlich nicht der Ort die praktische Umsetzung der Folgen einer solchen Abwägung zu diskutieren; es sei allerdings angemerkt, dass es schwer vorstellbar ist, dass es nicht umsetzbar sein soll, in großen Kirchenräumen Gottesdienste zu organisieren, in denen Hygienevorschriften eingehalten werden können, wie sie in Supermärkten oder bei den Sitzungen der Parlamente gelten. Gerade die großen Kirchen sind in dieser Frage gefordert, mit Fingerspitzengefühl und pragmatisch ihren Beitrag zu leisten, z.B. durch Erhöhung der Frequenz gottesdienstlicher Feiern und besonders durch das Angebot an kleinere Religionsgemeinschaften, die nicht über große Räume verfügen, in denen die Abstandregeln gut eingehalten werden können, auch große Kirchräume für ihre Gottesdienste nutzen zu dürfen. Insofern sollten sich besonders Christen dafür engagieren, dass der Staat und die Religionsgemeinschaften in den kommenden Tagen gute Lösungen dieses Grundrechtskonflikts entwickeln und sich nicht einseitig hinter den Erfordernissen des Gesundheitsschutzes verstecken um diesem Konflikt auszuweichen: Es geht dabei schließlich um den Dienst an der Würde aller!

Der Verfasser

Mag. theol. Stefan Gaßmann ist Wissenschaftlicher Referent der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ), Mönchengladbach.