Arnd Küppers | 19. November 2020

Die Pandemie und das Subsidiaritätsprinzip

Kürzlich kamen mir Zweifel am Subsidiaritätsprinzip. Nur ganz kurz, aber es ist passiert. Das ist mir ein wenig unangenehm, denn eigentlich lässt man als katholischer Sozialethiker darauf nichts kommen. Schließlich ist das Subsidiaritätsprinzip einer der wenigen Beiträge, der eine eindeutige Herkunft im politisch-sozialen Katholizismus und der kirchlichen Soziallehre hat und der es dennoch geschafft hat, den Mainstream des sozialwissenschaftlichen Diskurses und sogar die Gesetzgebung entscheidend zu prägen.

Schuld an dieser kurzzeitigen Identitätskrise ist die Runde der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten, die sich am vergangenen Montag, dem 16.11., nicht auf eine einheitliche Linie in der Bekämpfung der Corona-Pandemie einigen konnte. Man muss leider sagen: wieder einmal. Denn es hat sich wiederholt, was sich vier Wochen zuvor ganz ähnlich schon einmal so abgespielt hatte. Damals, bei dem Corona-Gipfel am 14. Oktober in Berlin konnte sich Bundeskanzlerin Merkel mit den von ihr geforderten entschlossenen Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens nicht durchsetzen. Obwohl der Braunschweiger Immunologe Michael Meyer-Hermann den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten ins Gewissen geredet und klipp und klar gesagt hatte, dass es „nicht fünf vor zwölf, sondern zwölf“ sei, verständigten sich die Länderchefs lediglich auf einige wenige halbherzige Maßnahmen. Der Experte war am Ende sprachlos und die Kanzlerin enttäuscht. So könne man das Unheil nicht abwenden, sagte sie und prophezeite: „Dann sitzen wir in zwei Wochen eben wieder hier.“

Die Kanzlerin sollte Recht behalten. Durch die Verweigerungshaltung einzelner Landesregierungen verstrich kostbare Zeit, in der das Infektionsgeschehen außer Kontrolle geriet. Und die zwei Wochen später beschlossenen Maßnahmen reichten dann nicht mehr aus, die Lage wieder in den Griff zu bekommen. Stattdessen kommen die Gesundheitsämter nun an ihre Belastungsgrenzen; drei Viertel von ihnen haben inzwischen die Bundeswehr zu Hilfe gerufen. Auch die Labore kommen nicht mehr hinterher; die Corona-Testkapazitäten sind vielerorts erschöpft. Die Schulen versinken zunehmend im Chaos. Nach Angaben des Lehrerverbandes sind derzeit rund 300.000 Schülerinnen und Schüler und bis zu 30.000 Lehrerinnen und Lehrer in Quarantäne. Vielerorts droht die Überlastung der Krankenhäuser und Intensivstationen. Das Wort von der Triage geistert wieder durch die Medien und droht diesmal vom Schreckgespenst zur traurigen Realität zu werden, wenn die Infektionszahlen nicht bald deutlich reduziert werden können.

Nun sagt der Volksmund: Aus Fehlern lernt man. Aber leider scheint das für politische Entscheidungen nicht ganz zutreffend zu sein. Die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten jedenfalls haben am Montag das wiederholt, was sie auch am 14. Oktober gemacht haben. Sie haben der Kanzlerin ins Steuer gegriffen und erst einmal auf die Bremse getreten. Anders als Kanzlerin Merkel und ihr Staatsminister Helge Braun, immerhin von Hause aus Intensivmediziner, sahen sie sich in der bedrohlichen Gemengelage nicht zu raschem und entschiedenem Handeln veranlasst. Die umfangreiche Beschlussvorlage des Kanzleramts wurde von ihnen verworfen. Es ist mir ein Bedürfnis, das noch einmal hervorzuheben: Es wurden nicht einzelne Maßnahmen aus der Vorlage herausgenommen oder verändert, sondern die Vorlage wurde komplett verworfen: Vorschläge zur Verkleinerung der Lerngruppen, um die Distanzempfehlungen des Roland-Koch-Instituts (RKI) in den Schulen endlich umsetzen zu können; verschärfte Regeln zu häuslicher Quarantäne bei Erkältungssymptomen; weitere Kontaktbeschränkungen; strengere Regeln für private Feiern; Maßnahmen zum besseren Schutz von Risikogruppen. Nichts davon wurde beschlossen. Gar nichts. Stattdessen haben die Landesregierungen sich ausbedungen, nun erst einmal weitere zehn Tage die Lage zu beobachten, sich zu beraten und dann eigene Vorschläge zu unterbreiten. Gut Ding will Weile haben.

Dieses frustrierende Schauspiel, das am 16.11. in Berlin aufgeführt wurde, hat mich jedenfalls dazu gebracht, kurzzeitig mit dem Subsidiaritätsprinzip und dem ihm verwandten Föderalismus zu hadern. Aber inzwischen habe ich mich wieder eines Besseren besonnen. Auch weil diejenige, die vielmehr Grund hätte, frustriert zu sein, wie immer einen kühlen Kopf bewahrt. Bei der Eröffnung des Wirtschaftsgipfels der Süddeutschen Zeitung sagte Kanzlerin Merkel mit Blick auf die gescheiterte Ministerpräsidenten-Runde, dass es aus ihrer Sicht manchmal zu langsam gehe in der Pandemiebekämpfung. Das bedaure sie sehr, und zwar wegen der Risiken für das Gesundheitssystem, aber auch für die Volkswirtschaft. Denn je früher man entschlossen reagiere, desto kürzer könnten die Beschränkungen schließlich ausfallen. „Deshalb bin ich da manchmal ungeduldig, das stimmt,“ so Merkel wörtlich, „aber insgesamt ist der Föderalismus schon eine gute Sache.“ Und Recht hat sie, die Kanzlerin.

Natürlich könnte man sich in einem Gesundheitsnotstand wie dem jetzigen mehr Richtlinienkompetenz für die Bundesregierung wünschen. Aber das letztlich doch nur, weil wir in Deutschland eine Kanzlerin haben, die schon mehrfach bewiesen und auch in dieser Krise gezeigt hat, dass sie, wenn es darauf ankommt, den Mut hat, ohne zu zögern beherzt zu handeln. Andere Staaten, die hingegen Pech mit ihren Regierungschefs haben – ich denke an aktuelle Beispiele aus dem angelsächsischen Sprachraum – können sich wenigstens damit trösten, dass Regionalregierungen oder Gouverneure zumindest in einzelnen Landesteilen das Schlimmste verhindern. Es kommt in der Krise also mehr auf die handelnden Personen an als auf das jeweilige System.

Losgelöst von konkreten Personen aber bleiben die Argumente, die für Subsidiarität und Föderalismus sprechen, uneingeschränkt gültig. Dezentrale politische Entscheidungsträger in den Ländern und Kommunen kennen die Gegebenheiten vor Ort besser und können deshalb auch passgenauere Lösungen finden als eine Zentralregierung, die notgedrungen nach der Methode one size fits all verfährt.

Ein Problem allerdings ist, dass es den Landesregierungen bisweilen und auch in der jetzigen Situation oft gar nicht um Subsidiarität, sondern um eifersüchtig gehütete eigene Kompetenzen geht. Als zum Beispiel die Stadt Solingen wegen sehr hoher Infektionszahlen Anfang November beschloss, entsprechend der Empfehlungen des RKI einen eingeschränkten Schulbetrieb mit halbierten Klassen einzuführen, verbot NRW-Schulministerin Gebauer das kurzerhand und wischte das von der Stadt gemeinsam mit den Schulleitungen und der Elternschaft ausgearbeitete Konzept vom Tisch – ein Paradebeispiel für zentralistische Ignoranz gegenüber dem Subsidiaritätsgedanken.

Das Problem in der derzeitigen Krise ist letztlich gar nicht der Föderalismus, sondern die Art, wie er im Moment umgesetzt wird. Einer der großen Vorteile der föderalen gegenüber der zentralistischen Struktur ist gerade, dass es unterhalb der Zentralregierung immer eine Mehrzahl von föderalen Entscheidungsträgern gibt, die nebeneinander handeln. Dadurch haben die Wählerinnen und Wähler immer unterschiedliche Politiken vor Augen, die sie vergleichen und nach ihren eigenen Vorstellungen und Präferenzen sowie Erfolg und Misserfolg beurteilen können. Es ist wie in der Marktwirtschaft: Dieser Wettbewerbsföderalismus befördert die Effizienz politischen Handelns. In der Corona-Pandemie verzichten die Landesregierungen bislang aber weitgehend auf Wettbewerb um die beste politische Strategie. Stattdessen haben sie sich im Sinne eines strikt „kooperativen Föderalismus“ vorgenommen, gemeinsam und einheitlich zu handeln. Aus welchen Gründen auch immer fehlt einigen Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten aber erkennbar jener Mut zu entschiedenem Handeln, wie ihn die Kanzlerin zeigt. Das hat zur Folge, dass bei dem kooperativen Ansatz derzeit die Mutlosen und Zauderer das Tempo vorgeben. Deshalb schleppt sich Deutschland nun seit Wochen mit halbherzigen Maßnahmen durch die eskalierende Pandemie. Eine nachhaltige Wirkung auf das Infektionsgeschehen zeigt sich nicht, aber den von den Maßnahmen betroffenen Branchen, insbesondere dem Hotel- und Gaststättengewerbe, droht die Luft auszugehen, wenn die Beschränkungen immer weiter verlängert werden müssen, um mehr schlecht als recht irgendwie über den Winter zu kommen.

So stellt sich mir am Ende die Frage: Wenn die Landesregierungen auf ihre föderale Kompetenz in der Pandemiebekämpfung und beim Gesundheitsschutz bestehen, warum nehmen sie diese dann nicht auch in je eigener Verantwortung wahr? Dann könnte und sollte eine Ministerpräsidentin/ein Ministerpräsident, die/der sich entschiedeneres Handeln wünscht, doch einfach zur Tat schreiten. Wieso stattdessen auf den Minimalkonsens aller Landesregierungen warten? Wenn die Landesregierungen unterschiedliche Strategien verfolgen würden, könnte man schon nach kurzer Zeit sehen, welcher Weg am erfolgreichsten ist. Und als Nebeneffekt könnte solcher Wettbewerbsföderalismus dabei helfen, der Antwort auf eine andere Frage näherzukommen: wer sich dafür empfiehlt, das politische Erbe einer mutigen, entscheidungskräftigen Kanzlerin anzutreten.

Der Verfasser